Prägende Äbtissinnen

von Dr. Stephan Heinemann

Einleitung

Das Evangelische Damenstift Kloster Walsrode ist das älteste Frauenstift im ehemaligen Fürstentum Lüneburg. Es wurde im zehnten Jahrhundert durch den anhaltinischen Grafen Walo und seine Frau Odelint als Kanonissenstift gegründet. Erste Äbtissin war wahrscheinlich deren Tochter Mechthildis. 986 erfolgte die erste urkundliche Erwähnung anlässlich einer Schenkung durch den sächsischen König Otto III. Dieses Jahr sieht das Kloster als sein Gründungsjahr an. Zu der Zeit gab es bezogen auf die christlichen Frauengemeinschaften noch keine strengen Unterscheidungskriterien zwischen Kloster und Stift, weshalb sich für das Damenstift der Name „Kloster Walsrode“ eingebürgert hat. Durch eine Zusatzbezeichnung (siehe Beginn des Absatzes) versucht man, diesen Begriff heute zu präzisieren.

Stifterfigur Graf Walo

Um 1300 geschaffene Skulptur des Stifters Graf Walo in der Walsroder Klosterkapelle mit dem Kirchenmodell in der Hand (Barbara von Hövel / Klosterkammer).

Im Kanonissenstift wurden von den Eintretenden keine Gelübde und Bindung auf Lebenszeit verlangt. Allerdings hatten sie keusch und gehorsam zu sein; sie mussten bereit sein, zu singen und zu beten sowie die Messe mitzufeiern. Man gewährte ihnen persönliches Vermögen und Reisefreiheit, so dass den Kanonissen eine standesgemäße Lebensführung möglich war. Für eine Heirat war der Austritt aus dem Stift möglich. Der Gang ins Kloster bedeutete für die Frauen somit keinen Rückzug, sondern bot die Gewissheit, versorgt zu sein und ein selbstbestimmtes Leben führen zu können. In Walsrode herrschte nach einer Verordnung des hannoverschen Kurfürsten Georg Ludwig von 1711 der Adelsvorbehalt, das heißt, dass die Plätze im Kloster nur für die Töchter der adeligen Landstände reserviert waren (im 14. und 15. Jahrhundert konnten auch Bürgerliche dem Konvent beitreten). Dies änderte sich erst grundlegend in den 1980er Jahren, als immer mehr Bürgerlichen der Eintritt gewährt wurde, die den Konvent heute dominieren.

1255 hatte man, wahrscheinlich unter dem Druck der Mindener Bischöfe, die ihre Territorialmacht stärken wollten, die Regel des Heiligen Benedikt angenommen, obwohl das Kloster dem Orden nicht angehörte. Wegen dieser fehlenden Verbindung sowie keinerlei Kontakt zum Abt eines Mönchsklosters darf angenommen werden, dass sich die Lebensform der Walsroder Kanonissen nicht wesentlich änderte.

Dem Konvent stand eine Priorin (lat. „die Erste“) vor, die namentlich erstmals 1267 urkundlich erwähnt wurde. Sie kümmerte sich um das geistliche und weltliche Wohl der Konventualinnen, hatte für Disziplin zu sorgen und die verschiedenen Konventsämter zu besetzen. Ihre Befugnisse erfuhren nach der Reformation eine Erweiterung; mit der Einziehung der Propstei war sie nun auch für den weltlichen Bereich verantwortlich. Zuvor hatte ein Probst den Klosterbesitz verwaltet, die Rechtsgeschäfte getätigt und als Grund- wie Gerichtsherr die Rechtsprechung über den Klosterbezirk und Flecken Walsrode ausgeübt. Mit ihrer gestiegenen Bedeutung wurde aus der Priorin nun die Domina (lat. „Herrin“). Die Bezeichnung „Priorin“ blieb aber für ihre Stellvertreterin erhalten. 1711 benannte man die Domina um in Äbtissin. Die weibliche Form des Wortes „Abt“, das sich aus dem aramäischen „aba“ für „Vater“ ableitet, bezeichnet die Vorsteherin und geistliche Leiterin einer Nonnengemeinschaft. Sie wird bis in die Gegenwart vom Konvent frei gewählt, wobei die heutigen Amtsinhaberinnen alle über eine akademische Ausbildung verfügen.

Die Äbtissin ist die Geschäftsführerin des Klosters und Leiterin des geistlichen Lebens – über Jahrhunderte bestimmt durch den Chordienst, Andachten, Bibellesungen und Gottesdienstfeiern. Daneben widmet(e) sie sich zusammen mit den Koventualinnen der Unterstützung sozial Schwacher und Bedürftiger. Über ihre unterschiedlichen, sich im Laufe der Zeit verändernden Aufgaben geben die nachfolgenden biografischen Kapitel näher Auskunft.

Das Leben innerhalb der Klostermauern hat sich (besonders im Laufe der letzten Jahrzehnte) immer mehr gegenüber dem Leben der es umgebenden Gesellschaft geöffnet. So sieht man sich nicht mehr als Insel, sondern als aktiver Teil der Walsroder Stadtgesellschaft, nicht mehr als adeliges, sondern für alle zugängliches christliches Haus. Ein Schwerpunkt liegt heute auf der Jugendarbeit. Ein neues Angebot ist das Pilgern, da das Kloster am Jacobusweg liegt. Mehr dazu findet sich im letzten Kapitel.