Standesgemäße Lebensweise erforderlich. Sophie Anne Dorotee von Hinüber
Von 1714 bis 1837 bestand eine Personalunion zwischen Hannover und Großbritannien. 1760 wurde Georg III. (1738-1820) als erster aus dem Haus Hannover mit der Muttersprache Englisch britischer König. In seiner Jugend hatte er von 1752 an sieben Jahre lang von Carl Heinrich von Hinüber Deutschunterricht erhalten. Dieser entstammte einer seit dem 16. Jahrhundert in Deutschland nachzuweisenden Familie, die sich große Verdienste in der Organisation des hannoverschen Postwesens erworben hatte und dafür geadelt worden war. Anlässlich seiner Thronbesteigung setzte Georg III. die auf einer Liste mit Bewerberinnen um Klosterplätze weiter unten stehende Cousine seines früheren Lehrers, Sophie Anne Dorotee von Hinüber, an die erste Stelle und bestimmte sie zur Anwärterin für das Kloster Walsrode – möglicherweise auf dessen Vorschlag hin.
Krönungsporträt von Georg III. (1738-1820), König von Großbritannien und Irland aus dem Haus Hannover, gemalt von Allan Ramsay, 1762 (Art Gallery of South Australia).
Sophie Anne Dorotee von Hinüber war das am 5. November 1730 geborene dritte von neun Kindern des Juristen und dänischen Amtsvogts zu Hatten und Wardenburg Christian Karl von Hinüber (1694-1752). In ihrem Geburtsjahr kaufte er das Gut Hundsmühlen im späteren Herzogtum Oldenburg. Nach dem Tod ihrer Mutter heiratete ihr Vater 1740 erneut und gründete eine weitere Familie. Nachdem er und seine zweite Frau wenige Jahre nacheinander gestorben waren (1752 und 1754), kümmerte sie sich um ihre noch minderjährigen Halbgeschwister und lernte so viel über die Führung eines Haushalts. Aus diesem Grund trat die 1761 durch König Georg III. Ernannte wohl auch erst 1765 ins Kloster ein, da zu diesem Zeitpunkt ihre jüngste Halbschwester 20 Jahre alt und im Begriff war, zu heiraten. Da nun alle ihre Familienangehörigen versorgt waren, konnte sie zur Sicherung ihrer eigenen Versorgung ins Kloster eintreten, wo sie, wie sie schrieb, „beynahe 10 Jahre recht vergnügt zugebracht“.
Das Wappen der ursprünglich aus dem Rheinland stammenden Familie von Hinüber, die seit dem 16. Jahrhundert in Deutschland ansässig ist (Barbara von Hövel / Klosterkammer).
Am 21. Februar 1775 wurde sie als Nachfolgerin von Dorothea Eleonora von Ompteda zur Äbtissin gewählt. Die Einführung mit Festmahl für 26 Personen fand am 14. März statt. Für 47 Reichstaler, für die das Kloster aufkam, ließ man sich aus Bremen u.a. Weißwein, Rotwein, Malaga, Arrak, Rindfleisch, Ochsenzunge, gemästete Kapaune, Rehfleisch, Schinken, Kalbfleisch, Zitronen, Orangen, Rosinen, Mandeln, englischen Käse und 300 Austern liefern. Diese ebenso teuren wie edlen Waren konnten sich damals nur besonders Begüterte leisten.
Im August 1786 wurde über mehrere Tage lang das 800. Klosterjubiläum gefeiert, mit Glockengeläut, Gottesdiensten, Konzert der Stadtmusikanten, Gesang der Schulkinder und einem großen Festbankett für Konventualinnen und Bürger der Stadt Walsrode, das die Äbtissin aus eigenen Mittel bestritt.
Auf dem Porträt der Äbtissin Sophie Anne Dorotee von Hinüber (1730-1803) ist rechts im Hintergrund die Klosteranlage zu erkennen (Barbara von Hövel / Klosterkammer).
Als Vorsteherin achtete sie besonders darauf, dass die Rechte des Klosters gegenüber der Regierung gewahrt blieben und die Gebäude nicht verfielen. So wurden zwischen Juni und November 1775 Turm und Kapelle renoviert. In den Knopf auf dem renovierten Turm ließ die Äbtissin ein Dokument legen, indem sie neben Interna auch von „großen revolutionen, welche sich in verschiedenen Reichen zugetragen“ schrieb. Dabei wird es sich wohl um die amerikanische Unabhängigkeitsbewegung gehandelt haben, da sie ergänzte, dass fünf hannoversche Bataillone die in Gibraltar stationierten Truppen ablösen sollten, die nach Boston beordert worden waren.
Dazu ließ sie u.a. das Äbtissinnenhaus verlängern, die mit Vasen bekrönten Pfeiler des „großen Tores nach der Stadt zu“ errichten, die Decke im Klosterchor bemalen, der zudem durch eine Tafel mit den Wappen und Daten der Äbtissinnen verschönert wurde, und die roten Steine im „Langen Gang“ durch Fliesen ersetzen. 1785 ließ sie für 325 Reichstaler eine Orgel anschaffen, die dem Kloster aber in der Franzosenzeit 1812 wieder abhanden kam. Das Geld dafür beschaffte sie sich geschickt durch Leih- und Anlagegeschäfte sowie viele Hilfsgesuche an die „Königl. Cammer“. So kaufte sie 1785 für das Kloster für 1800 Reichstaler Grundstücke in der Vorbrück samt Brauhaus und Braugerechtigkeit, die dann verpachtet wurden.
In der Amtszeit der Äbtissin von Hinüber zwischen 1775 und 1803 wurde die Decke in der Klosterkapelle bemalt (Kloster Walsrode).
An der Spitze des Turmes der Klosterkapelle (vorn) sind die Jahreszahlen der letzten Renovierungen zu erkennen: 1775 und 1974 (Barbara von Hövel / Klosterkammer).
Tafel mit 16 Wappen der seit der Reformation amtierenden Äbtissinnen und dem Wappen der 1777 in den Konvent eingetretenen Anne Sophie Dorothea von Uslar als Bekrönung in der Klosterkapelle (Kloster Walsrode).
Das schmiedeeiserne Eingangstor zum Kloster Walsrode mit den von Vasen bekrönten Pfeilern aus dem 18. Jahrhundert, 2014 (Clemensfranz, Wikipedia).
Daneben legte sie Wert auf die Einhaltung der Klosterordnung und das standesgemäße Verhalten aller ihrer Mitbewohnerinnen. So strich sie die Expektantin Helene Juliane von Quiter kurz vor deren Klostereintritt 1783 von der Liste („schlechter conduite wegen“), da diese im Amt Hoya mit einer unehelichen Tochter niedergekommen war. Der daraufhin von der königlichen Justizkanzlei befohlenen Untersuchung entzog sich die Anwärterin durch Flucht. Im Fall von Margarethe von Plate konnte dagegen Diskretion gewahrt werden. Sie entschuldigte sich mit Krankheit und verzichtete von sich aus 1788 auf die im Jahr zuvor bereits erhaltene Klosterstelle. Den wahren Grund dafür verriet die Äbtissin in der Klosterchronik: „Es hat sich aber leider ihre Krankheit mit der Geburth eines Sohnes wozu der Groß Knecht ihres Vaters, Vater ist, geendiget.“ Um ihren betagten Vater zu schonen, der „von dem schrecklichen Fall seiner Tochter noch nichts erfahren“ hatte, verschwieg man ihm diese Umstände.
Ein anderer Fall war der der Henriette von Brandt. Auf dringende Bitte ihres Vaters hin und wegen der „erbarmungswürdigen Lage“ der Familie war sie 1774 von der Äbtissin von Ompteda eingeschrieben worden. 1798 sollte sie die Nachfolge einer verstorbenen Konventualin antreten. Die Äbtissin von Hinüber wandte sich allerdings dagegen, da der Vater als verarmter Offizier wegen der Unterschlagung von Geld angeklagt worden wäre, sich unter Vorspiegelung falscher Tatsachen weiteres Geld erbettelt hätte, während der Sohn sich „mit aller gemeinsten Leuten“ in den Wirtshäusern herumtreiben würde. Die Äbtissin befürchtete daher, die Neue könnte noch „vielen Verdruß“ bringen, „da sie sich fast gegen alles auflehnt, sich auch mit Mühe, der Kloster Ordnung unterwerfen werde“ und forderte von der Regierung in Hannover, „daß diese Person zur Ruhe verwiesen“ werde.
Es gelang ihr, dass Henriette von Brandt von ihrem Wohnort in der Vorbrück (damals noch eine selbständige Gemeinde, in der überwiegend ärmere Menschen wohnten) zu ihrer Tante nach Medingen zog, die im dortigen Kloster als Priorin lebte. Diese schrieb nach Walsrode, dass ihre Nichte sie gepflegt und sich auch sonst sehr gut benommen hätte. Nachdem sich auch noch eine weitere Verwandte, die Ehefrau des Oberhauptmanns von dem Knesebeck aus Lüneburg, für sie einsetzte, gestattete die Äbtissin schließlich Henriette von Brandt den Einzug ins Kloster, der zu Michaeli (29. September) 1801 erfolgte.
Dort erwies sie sich aber als weitaus weniger brav als von ihrer Verwandtschaft geschildert. So soll sie nach den Angaben der Äbtissin heimlich Feuerholz aus dem für sie gedachten Bestand verkauft und sich öfters nachts außerhalb der Klostermauern aufgehalten haben, was eine scharfe Verwarnung nach sich zog. 1808 starb Henriette von Brandt mit 37 Jahren allein in Bullerberg an Schwindsucht und wurde an Heiligabend sang- und klanglos in Meinerdingen begraben.
Zur damaligen Zeit hegten viele adelige Familien den Wunsch, ihre Töchter im Kloster unterzubringen. Durch immer wieder ausbrechende verheerende Kriege war ihnen der Ernährer genommen worden oder sie hatten ihr Vermögen verloren und konnten so ihre weiblichen Kinder nicht ausreichend unterhalten bzw. erfolgreich verheiraten. Ein Platz im Kloster garantierte diesen nicht nur eine lebenslange Versorgung, sondern auch einen angemessenen sozialen Status. Jedoch mussten viele Bittschreiben abgelehnt werden, da die Zahl der insgesamt elf zur Verfügung stehenden Stellen nicht ausreichte.
Neben diesen internen Vorgängen erfährt man aus der Klosterchronik nur wenig über überregionale Ereignisse. Diese wurden von der Äbtissin von Hinüber nur aufgeführt, wenn sie das Klosterleben betrafen – ohne persönlichen Kommentar nur lapidar in aller Kürze und ohne die Darstellung von Hintergründen. Die Französische Revolution von 1789 findet beispielsweise gar keine Erwähnung. Dies hängt sicher damit zusammen, dass Adel und Kirche sich damals als Stütze des monarchischen Systems ansahen und zäh an ihren Privilegien festhielten. Zudem war es der Chronistin vielleicht auch nicht möglich, die mit der Revolution einhergehenden epochalen Veränderungen zu erkennen.
1793 berichtete sie vom Abzug von zwei Kompanien nach Brabant, die seit 1784 in Walsrode in Garnison lagen. Diese wurden im Rahmen der Koalitionskriege zur Bekämpfung der französischen Revolutionsarmee eingesetzt. 1795 erwähnte sie in der Stadt einquartierte „Emigranten“. Dabei handelte es sich um im englischen Sold stehende französische Truppen. Das Kloster musste „fourage Gelder“ zahlen, um sich von Besetzungen freizukaufen. Mit dem Frieden von Basel schied neben Preußen auch Hannover 1795 aus dem Kampf gegen Frankreich aus, „so daß unser Militair wieder in ihre garnisonen rücken konnten“. Doch sollte das Kriegsgeschehen einige Jahre später zurückkehren.
Im Mai 1803 erlebte Sophie Anne Dorotee von Hinüber noch den Einmarsch der Franzosen ins Kurfürstentum Hannover nach Wiederaufnahme des Kriegs durch Großbritannien. Mitte Juni mussten mehrere 100 Soldaten in der Stadt untergebracht werden: „Weil sie gerade an einem Sonntage hier eintrafen, wurde kein Gottesdienst gehalten.“ Am 2. Juli 1803 starb sie unerwartet mit 72 Jahren an einem Lungenödem.
Der Grabstein der Äbtissin Sophie Anne Dorothee von Hinüber zeigt ein falsches Wappen: statt des springenden Rehs ein Einhorn mit Löwenschwanz (Heinemann).
Als Äbtissin wusste sie ihren Handlungsspielraum verantwortungsvoll und tatkräftig zu nutzen. Stolz hielt sie in der Chronik fest, wenn sie mit einer Beschwerde Erfolg oder einen Prozess gewonnen hatte. Es muss eine tiefe Genugtuung für sie gewesen sein, sich als Frau in einer von Männern dominierten Welt durchgesetzt zu haben. Und das zu einer Zeit, als man Frauen durch die Macht und Würde ihrer Ehemänner definierte, von ihnen hauptsächlich das Gebären vieler Kinder erwartete und ihnen nur einen geringen Verstand zutraute. Jedoch wäre es zu gewagt, ihr Leben als Emanzipationsgeschichte zu bezeichnen; dafür agierte sie zu angepasst an die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse und Verhaltensregeln, die von ihr nie infrage gestellt wurden.